Wie managed die Stiftung Züriwerk ihre Diversity?
Anerkennung und Wertschätzung reichen nicht. Welche Massnahmen ergreift die Stiftung Züriwerk, wenn es konkret wird? Roger Stäger, Geschäftsleiter und Michelle Berchtold, Leiterin Personal, im Gespräch zum Thema Diversity-Management.
Gesprächsleitung: Fabienne Morgenegg, Leitung Kommunikation & Fundraising
Was ist eure Auffassung von Diversity-Management?
Roger
Diversität in einem Unternehmen spiegelt im Idealfall die Gesellschaft. Konkret heisst das: verschiedene Geschlechter, Herkunftsländer, sexuelle Orientierungen, Religionen, aber auch Unterschiedlichkeit der Hintergründe der Menschen, und zwar bezüglich Erfahrung, Bildung, Potenzial, Glauben. Und ich bin jetzt ganz grosszügig in meiner Interpretation, das heisst, auch die Einteilung von Schlaftypen in Lerchen und Eulen gehört mit dazu. Das Diversity-Management anerkennt diese Vielfalt und macht etwas damit. Daraus ergeben sich meiner Auffassung nach drei Themen für das Diversity-Management: Anerkennung, Gleichstellung und Inklusion. Alle drei Aspekte sind mir für die Stiftung Züriwerk sehr wichtig.
Michelle
Grundsätzlich heisst Diversität Vielfalt. Im Diversity-Management geht es darum, dass man die Unterschiedlichkeiten wertschätzt und anerkennt. Der Gewinn oder das Potenzial für das Unternehmen ist, dass Mitarbeitende sich selbst sein dürfen, die eigenen Perspektiven einbringen und dadurch superneue Ideen kreieren können, was letztlich Innovation möglich macht.
Roger
Die Unterschiedlichkeit der in Züriwerk tätigen Fachpersonen und Mitarbeitenden ist ein Potenzial. Die Berufsbiografien von Personen in den Werkstätten sind ein Beweis dafür. Die meisten haben mal einen anderen Job gemacht, und dieses Wissen aus anderen beruflichen Stationen bringen sie nun in die Stiftung ein. Auch die Zusammensetzung der Geschlechter in den Teams, die Altersstrukturen der Teams – all das müssen wir noch mehr wahrnehmen, schätzen und steuern.
Michelle Berchtold, Leiterin Personal
Wie managen wir unsere Diversity in der Stiftung Züriwerk?
Michelle
Ich würde sagen, dass wir es eben noch nicht systematisch managen. Wir haben in gewisser Weise einen Vorteil, und das ist das Schöne an unserer Stiftung, dass wir bereits divers sind und eine sehr offene Unternehmenskultur haben. Beispielsweise haben wir eine breite Vertretung der queeren Community und so wie ich es erlebe und empfinde, kann diese queere Community zu sich stehen und muss sich nicht verstellen. Ich weiss nicht, ob die queere Community in der Anzahl bei uns grösser vertreten ist als zum Beispiel in der Baubranche, wo ich vorher gearbeitet habe. Aber der Unterschied ist sicher der, dass man sich hier nicht verstecken muss und sich selbst sein kann. Das Diversity-Management hat bei uns bis jetzt vielleicht gar keinen so grossen Handlungsbedarf ergeben, um es effektiv zu systematisieren und strategisieren, wie es anderorts nötig ist. Trotzdem finde ich, dass wir noch einiges unternehmen könnten, etwa in Bereichen wie internen Schulungen, Rekrutierung, Talent-Management oder als Bestandteil in der neuen Unternehmensstrategie bzw. als Unternehmensziel. Oder auch als fixes Traktandum in Meetings.
Und wenn wir jetzt ganz konkret auf messbare Daten schauen wie beispielsweise die Geschlechterverteilung, wie sieht es diesbezüglich in unserer Stiftung zum Thema Diversität aus?
Michelle
Dazu habe ich vier Schätzfragen mitgebracht. Was denkst du, Roger, wie viele Nationen sind bei uns in der Stiftung vertreten?
Roger
20?
Michelle
Ja, du liegst recht nah. Es sind 14 verschiedene Nationen. Die meisten Personen stammen aus der Schweiz, aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Was denkst du, wie viele verschiedene gelernte Berufe sind in der Stiftung vertreten?
Roger
45?
Michelle
(Lacht.) Weit daneben, es sind 126! Der Frauen- bzw. Männeranteil unserer Belegschaft?
Roger
Wir sind nicht weit von 50:50 entfernt. Aber trotzdem schätze ich den Frauenanteil etwas höher. Präziser weiss ich es nicht.
Michelle
Magst du eine ungefähre Schätzung abgeben?
Roger
Ja, etwa 56 Prozent Frauen.
Michelle
Es sind 65 Prozent Frauen und 35 Prozent Männer. Bei den Lernenden sind es 14 Frauen und 2 Männer. Wir befinden uns in der Care-Arbeit und damit in einer Branche, in der es tendenziell mehr Frauen hat. Und jetzt wird es ganz interessant: Wir haben 51 Führungspersonen. Wie würdest du dort den Anteil zwischen Mann und Frau einschätzen?
Roger
Ich muss mich natürlich lösen von unserer Frau-Mann-Verteilung in der Geschäftsleitung. Denn da machen die Frauen mit drei zu eins deutlich die Mehrheit aus. Vermutlich ein Drittel Frauen und logischerweise zwei Drittel Männer.
Michelle
Es ist ein wenig gerechter, als du denkst. Zum Glück. Aber wenn wir jetzt die Zahlen von vorher anschauen mit 65 Prozent Frauenanteil, so ist es für mich doch erstaunlich, dass in den Führungspositionen nur 47 Prozent Frauen und doch 53 Prozent Männer sind.
Roger
Erstaunlich, weil der Frauenanteil auf Führungsebene unterproportional tief im Vergleich zur Verteilung sonst ist?
Michelle
Ja, genau. Dort streifen wir das Thema der Teilzeitarbeit, die oft von Frauen ausgeübt wird, und entsprechend sind sie weniger in Führungspositionen. Eine schöne Nachricht ist, dass bei uns 85 Prozent des Personals in Teilzeit tätig sind. Da sprechen wir von Pensen zwischen 10 und 90 Prozent. Was denkst du, wie ist bei diesen 85 Prozent Teilzeitmitarbeitenden die Aufteilung zwischen Frau und Mann?
Roger
70:30?
Michelle
Ja, fast. 67 Prozent Frauen und 33 Prozent Männer. Analysiert man noch tiefer, so ist hier interessant zu sehen, dass die Schere bei den Tiefprozentigen noch weiter auseinandergeht, da die tieferen Pensen natürlich eher von Frauen und die höheren Pensen eher von Männern besetzt sind. Ich habe noch Zahlen zu den Altersgruppen bzw. zur Generationen-Aufteilung mitgebracht. Die grösste Arbeitnehmenden-Gruppe in der Stiftung Züriwerk ist die Generation X, also die Personen zwischen 44 und 58. Die zweitgrösste Gruppe ist die Generation Y, also die 29- bis 43-Jährigen. Dann folgen die Babyboomer mit den Jahrgängen 1946 bis 1964 und die Generation Z, die 16- bis 28-Jährigen. Das sind unsere Alters- und Genderstrukturen – zumindest die, die wir erfassen. Wir erfassen bis jetzt «nur» Männer und Frauen.
Auf Geschäftsleitungsebene braucht es die Verankerung und Verortung der Themen zum Umgang und zur Förderung der Diversität. Auf formaler Ebene müssen wir Rahmenbedingungen festsetzen und Richtlinien haben für konkrete Handlungsfelder, um die definierten Werte zu verankern. Als Beispiel hier: In einem Führungsreglement ist festgelegt, wie Führungsleute mit Diversität umgehen. Auf der operativen Führungsebene sehe ich die Aufgabe der Führungskräfte, Gespräche zur Verbesserung der Inklusion und Toleranz, Diversität und Gleichstellung am Arbeitsplatz aktiv zu initiieren und entsprechend zu führen. Auf individueller, menschlicher Ebene sind wir alle, jede bzw. jeder Einzelne gefordert, unsere eigenen sozialen Präferenzen und die unserer Mitmenschen zu kennen und diese nicht nur zu akzeptieren, sondern auch weiterzuentwickeln. Dies kann durch gute Führungspersonen und mit gezielter Ausbildung erreicht werden, sodass wir die Leute möglichst gut unterstützen und sie ihr Potenzial entfalten können.
Michelle
Ich sehe die Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene. Es hat aber alles einen Bezug zu dem, was Roger gesagt hat. Die Utopie ist, wenn wir alle unsere Werte anerkennen würden, wenn wir alle politischen und gesellschaftlichen Meinungen abzubilden versuchen würden, dann wären wir netter und als Gesellschaft stärker. Die Realität da draussen ist aber eine andere, und ich spreche da jetzt nicht von der Bubble Stiftung Züriwerk, sondern von dem, was uns alle, auch unsere Kinder, umgibt. Wir haben Vorurteile und Vorstellungen in uns drin. Zum Beispiel: Wann ist ein Mann ein Mann? Darf ein Mann weinen oder nicht? Oder ist die Frau das schwache Geschlecht? Du gehst in einen Laden, kaufst dir in der Mädchenabteilung ein Paar Shorts in der Grösse 110, und dann begibst du dich in die Knabenabteilung und nimmst ein Paar Shorts in der Grösse 110, und was stellst du fest? Mädchenkleider sind durchgehend eng und kurz geschnitten, obwohl die Körper in diesem Alter noch komplett gleich sind. Knabenkleider haben Krokodil, Tiger, Dinosaurier, Raubtiere, Autos, Mädchen haben Häschen, Kätzchen – was soll das suggerieren? Das suggeriert, Buben sind Jäger und Mädchen sind die Gejagten. Es sind diese Bilder, die uns prägen. Das ist gesellschaftlich eine Riesenherausforderung, dem müssen wir etwas entgegenstellen. Ein weiteres Beispiel: Am Christopher Street Day wurden Teilnehmende mit Eiern beworfen. Ich meine, wir befinden uns in der Schweiz im Jahr 2024! Trotz vermeintlich gesellschaftlichem Wandel erleben Menschen hierzulande, in einer aufgeklärten, westlichen Gesellschaft, Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung, Geschlecht, Zugehörigkeit! Gegen dies anzukämpfen und füreinander grössere Toleranz zu schaffen, ist unsere grösste Herausforderung als Gesellschaft – und als Stiftung Züriwerk. Innerhalb der Stiftung müssen wir da vielleicht gar nicht mal so sehr kämpfen, und dennoch sind wir alle mit den stereotypen Bildern und Vorstellungen aufgewachsen und leiden vielleicht zum Teil sogar darunter. Als Arbeitgeberin können wir mit Schulungen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es diesen Bias gibt und wie man ihn durchbrechen könnte.
Welche Herausforderungen und Aufgaben siehst du als HR-Verantwortliche für die Stiftung?
Michelle
Bezüglich Sprache: Erst bin ich erschrocken, als ich in die Stiftung gekommen bin, als man da fast unisono von Mitarbeiter, Bewohner usw. gesprochen hat. In der Verschriftlichung entdecke ich es weniger, jedoch in der Denkweise, in den Köpfen und beim Reden ist das generische Maskulin noch total verankert. Ein weiterer Punkt: Bei uns im System kannst du zum Beispiel nur «Herr» oder «Frau» hinterlegen, «non-binär» oder nur schon «divers» usw. geht nicht. Hier sehe ich definitiv Handlungsbedarf.
Machen wir nochmals den Bogen zurück zu den Chancen, welche die Diversität in einem Betrieb mit sich bringt und die wir naturgegeben in unserer Stiftung schon sehr gut vertreten haben. Wie werden die guten Vorsätze konkret umgesetzt?
Roger
Wir erarbeiten zurzeit unsere neue Strategie. Ich sehe eine grosse Chance, das Diversity-Management in unserer Stiftungs-DNA zu verankern und nach den definierten Werten zu handeln. Das bedeutet, eine Betriebskultur zu entwickeln, in der die Organisation nicht nur Personen anstellt, von denen man per se glaubt, dass sie in die bestehende Organisation und Kultur reinpassen, sondern auch Personen, denen man zutraut, dass sie das Unternehmen im Thema Diversity-Management weiterentwickeln. Ich bin absolut davon überzeugt, dass das Resultat für die Stiftung und die Menschen, die hier arbeiten, bereichernd ist. Denn so können sie ihr Potenzial entwickeln und ihre Fähigkeiten stärken, was die Chancen auf verbesserte Betriebsergebnisse erheblich steigert. Für eine Non-Profit-Organisation ist das ein entscheidender Punkt.
Michelle
Ja, absolut. Ich sehe es genauso. Ich finde, wenn du von Unternehmensimage oder Arbeitgeberattraktivität sprichst, so kannst du zwar Fringe-Benefits wie mehr Ferien und Dienstaltersgeschenke usw. anbieten. Aber es gibt doch nichts Schöneres, als wenn du weisst, dass du zur Arbeit kommen und dabei komplett dich selbst sein kannst, deine Meinung äussern darfst und dafür nicht verurteilt wirst, sondern die Arbeitgeberin dies als Gewinn betrachtet. Das ist die Unternehmenskultur, die viel wichtiger ist. So komme ich megagern arbeiten, kann mein Potenzial voll entfalten und somit auch neue Ideen und ein Netzwerk entstehen lassen, was uns betriebswirtschaftlich wie auch innovativ weiterbringt.
Ein Schlussvotum zum Thema Umsetzung des Diversity-Managements in unserer Stiftung?
Roger
Was ich konkret sagen kann: Wir wollen und brauchen einen inklusiven Stiftungsrat. Das Thema habe ich auf die Agenda genommen. Und wir sind am Strategieprozess. Aus meiner Sicht müssen die Themen Gleichstellung und Diversität im neuen Leitbild Platz finden. Denn das ist Stand heute noch nicht drin.
Michelle
Aus HR-Sicht kann ich ergänzen, dass wir die Themen Frauen in Führungspositionen und Nachrekrutierung von Frauen mit Teilzeitpensen im bestehenden Personalstamm definitiv angehen. Auch die Vorgabe, dass für Führungspositionen mindestens ein Dossier einer Frau geprüft werden muss und in den Inseraten vielleicht Topsharing als Möglichkeit aufgelistet wird, ist denkbar. Das sind Änderungen, die man einfach umsetzen kann. Schulungen zu Diversity in unserer Stiftung sind dann Handlungsfelder, die langfristig wirken und die Gesellschaft verändern können. Mein Ziel ist es, unser Personal von rund 380 bis 400 Menschen auf einen noch offeneren und toleranteren Weg zu bringen. Wenn sie dies dann vielleicht auch daheim ihren Kindern oder in ihrem Freundschaftsumfeld weitervermitteln, können auch wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft rundherum etwas toleranter wird.