Inklusive Strategie
Bei der Erarbeitung unserer neuen Zehnjahresstrategie waren alle internen Interessengruppen an Board. Wie gelingt ein inklusiver Strategieprozess?
Auf dem Weg in die inklusive Zukunft

Text ROGER STÄGER
Mit dem Jahr 2025 beginnt für Züriwerk die zehnjährige Strategieperiode der «Strategie Inklusion 2035». In dieser Zeit haben wir ein grosses Ziel vor Augen. Unsere Vision heisst: eine Gesellschaft, die nicht behindert. Mit vereinten Kräften und allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln wollen wir uns für die Verwirklichung dieser Vision einsetzen. Wir wollen Hindernisse aus dem Weg räumen. Damit alle Menschen gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind.
Von Anfang an inklusiv
2024 war das letzte Jahr der vergangenen Strategieperiode und damit das Jahr, in dem es galt, die neue Strategie zu erarbeiten. Schon zu Beginn der Strategieentwicklung war klar, dass möglichst viele Menschen von Züriwerk im Prozess mitwirken sollten. Dies bedeutete: die Leute zusammenbringen, das Vorhaben erläutern, Fragen stellen, zuhören, Gedanken ergründen und Ideen sammeln. Den Rahmen bildeten verschiedene Events, an denen sich alle einbringen konnten: Bewohnende, Mitarbeitende, Fach- und Leitungspersonen, die Geschäftsleitung und der Stiftungsrat. Zunächst fanden drei vom Stiftungsratspräsidenten Hermann Arnold geleitete Hackathons statt, anschliessend wurden inklusive Strategie-Workshops durchgeführt. Parallel dazu führten die Geschäftsleitungsmitglieder Einzelinterviews mit verschiedenen Stakeholdern aus der Politik, der Wirtschaft und dem Bildungsbereich sowie mit Leitungspersonen anderer Institutionen.
Können Sie sich vorstellen, wie zahlreich und vielfältig die gesammelten Beiträge waren? Nun galt es, diese zu sortieren, destillieren und gewichten. Schliesslich waren die zentralen Aussagen der Strategie Inklusion 2035 ausgearbeitet: die Vision, die Mission und die Werte, zu denen sich die Stiftung bekennt. In einer stiftungsweiten Umfrage wurden diese geprüft und verfeinert, sodass es schlussendlich an der Geschäftsleitung und dem Stiftungsratsausschuss lag, die Details auszuformulieren, die Roadmap für die nächsten zehn Jahre festzulegen und konkrete Etappenziele für jedes Jahr zu definieren.
Was ist eigentlich Inklusion?
Eine der Herausforderungen bei der Erarbeitung einer Stiftungsstrategie ist die Terminologie. Wollen wir das Wort Behinderung verwenden, oder sprechen wir von Beeinträchtigung? Was heisst eigentlich Inklusion? Mit der laufenden Entwicklung der Gesellschaft verändert sich auch deren Sprachgebrauch, und in verschiedenen Interessengruppen werden die gleichen Begriffe unterschiedlich benutzt. Deshalb ist es für unsere Zielerreichung entscheidend, dass wir ganz klar definieren: Was bedeutet für uns Inklusion? Vorläufig lautet unsere Definition: «Inklusion ist für uns ein natürliches, selbstverständliches Miteinander, bei dem alle Menschen gleichberechtigt und respektvoll zusammenleben und -arbeiten. In diesem Miteinander kann jeder Mensch seine Einzigartigkeit einbringen und ist als vollwertiger Teil der Gemeinschaft anerkannt.» Im Jahr 2025 werden wir gemeinsam an der Definition und dem Verständnis des Begriffs weiterarbeiten.
Inklusiv auf allen Ebenen
Die neue Strategieperiode startete auch mit einem neu zusammengesetzten Stiftungsrat. Nach langjährigem Engagement verliessen Christine Bernet und Hansruedi Bischofberger den Stiftungsrat bzw. dessen Ausschuss. Ihre Nachfolge treten Hans-Christian Angele und Philipp Penner an. Zusätzlich ergänzt Islam Alijaj den Stiftungsratsausschuss. Der Beitritt von Islam Alijaj als erstes Mitglied mit Behinderung im Züriwerk-Stiftungsratsausschuss steht symbolisch für den Beginn der neuen Ära. Für unsere grossen Vorhaben sind wir nun bestens gerüstet. Wir freuen uns sehr, mit der vielfältigen, inklusiven Gemeinschaft des «Züriwersum», geprägt von seinem Reichtum an Ideen und Wissen und von hunderten engagierten Mitwirkenden, der grossen Vision der Strategie Inklusion 2035 entgegenzustreben.
Warum ist das inklusive Vorgehen so wichtig?
Robert Lörincz, Mitarbeiter und Bewohner bei Züriwerk, und Andrea Kaufmann, Geschäftsleitungsmitglied, ergründen diese Frage gemeinsam.
Mitgestaltung der eigenen Zukunft
Im Gespräch: ANDREA KAUFMANN UND ROBERT LÖRINCZ
Der Handlungsplan für die kommenden zehn Jahre der Stiftung Züriwerk macht eine klare Ansage: Die Strategie Inklusion 2035 trägt das Ziel bereits im Namen. Klar, dass sie auch inklusiv erarbeitet wurde. Dazu fanden 2024 ganztägige Workshops und kürzere Hackatons statt. Alle konnten sich einbringen: Mitarbeitende, Bewohnende, Fach- und Leitungspersonen. Robert Lörincz ist Mitarbeiter und Bewohner bei Züriwerk, Andrea Kaufmann Geschäftsleitungsmitglied. Gemeinsam ergründen sie, warum das inklusive Vorgehen so wichtig ist.
Andrea: Die UN-Behindertenrechtskonvention legt fest, dass Menschen Wahlfreiheiten haben, mit- und selbstbestimmen können und an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben. Für uns als Stiftung sind diese Ziele wichtige Treiber, die in der neuen Strategie fest verankert sind. Wir wollen unsere Angebote so weiterentwickeln, dass ein natürliches Miteinander entsteht, innerhalb unserer Organisation, aber auch in der Gesellschaft. Dass wir die Personen, die unsere Angebote schliesslich nutzen, in deren Entwicklung einbeziehen, ist ein logischer Schluss. Wie hast du die Workshops erlebt, was bedeutet für dich dieser Einbezug?
Robert: Ich möchte Mitsprache, damit ich ein besseres Verständnis habe. Und damit ich die Zukunft mitgestalten kann. An den Workshops fühlte ich mich wohl und eingebunden. Die Atmosph.re war freundlich und ich wurde verstanden.
Andrea: Natürlich hat es auch Hürden gegeben, aber die haben wir genommen. Wir haben als Team viel gelernt. Darüber, wie wichtig Zeit zum Nachdenken ist. Dass eine einfache Sprache zentral ist. Und auch, wie individuell unsere Bilder für die Zukunft sind.
Robert: Ich finde auch: Genug Zeit zu haben, ist wichtig. Und dass ich Informationen habe. Damit ich mitreden kann, brauche ich ein besseres Verständnis der Themen. Auch hilft mir ein klarer Ablauf und eine Struktur. Aber wie geht es jetzt eigentlich weiter mit der Strategie?
Andrea: Zuerst werden wir über die wichtigen Begriffe sprechen und sie definieren. Also was genau bedeutet Inklusion für uns? Und sind Menschen beeinträchtigt oder werden sie behindert? Wie wollen wir die Menschen nennen, die unsere Angebote nutzen? Dazu braucht es viele Gespräche, an denen wieder alle Menschen bei Züriwerk teilnehmen können. Wir freuen uns darauf, denn gemeinsam wollen wir, wie du sagst, eine bessere Zukunft gestalten.

Weitere Stimmen zum inklusiven Vorgehen: Was bedeutet dir der inklusive Strategieprozess?
Neu im Stiftungsratsausschuss
Islam Alijaj ist das erste Mitglied des Stiftungsratsausschuss mit einer Behinderung.
Vom Sonderschüler zum Nationalrat
Text ROGER STÄGER
Islam Alijajs Leistungsausweis ist so beeindruckend wie sein Lebenslauf. Mit 16 beendet er die Sonderschule auf dem schulischen Niveau eines Sechstklässlers – eine Folge der Vorurteile, die er aufgrund seiner Zerebralparese und der daraus folgenden Sprechbehinderung erfährt. Seine intellektuellen Fähigkeiten werden ständig unterschätzt. In seinem biografischen Manifest schreibt er: «Ich muss immer zuerst meine Behinderung egalisieren, damit ich ins Rennen steigen kann.»
Doch er nimmt den Kampf auf, beweist sich in der Ausbildung zum Kaufmann, kommt Schritt für Schritt weiter. Seine eigene Erfahrung, durch die Gesellschaft in den Möglichkeiten behindert zu werden, motiviert ihn zum politischen Engagement. Er wird Aktivist, setzt sich für ein selbstbestimmtes Leben ein und lernt dabei, wie Behindertenorganisationen und Politik funktionieren.
Islam Alijaj will einen gesellschaftlichen Umbruch: weg von der Defizitorientierung, hin zu mehr Unterstützung, damit Menschen mit Behinderungen ihr volles Potenzial selbstbestimmt entfalten können. Er gründet 2019 den Verein Tatkraft mit und stösst damit unter anderem den Inklusions-Check für Gemeinden und die Inklusionsinitiative an. 2023 wird Islam Alijaj in den Nationalrat gewählt. Nun möchte er in der ganzen Schweiz etwas bewegen. Denn seine Kinder sollen nicht in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, in der ihr eigener Vater als minderwertig angesehen wird.
Um das zu erreichen, will er unser heutiges System in der Schweiz revolutionieren, um allen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, möglichst unabhängig von den Institutionen für Menschen mit Behinderung. Das Ziel, das Islam politisch verfolgt, deckt sich eins zu eins mit der Vision, die der Stiftungsrat und die Geschäftsleitung der Stiftung Züriwerk im Rahmen der Strategie Inklusion 2035. definiert haben: eine Gesellschaft, die nicht behindert. Oder wie er es auch schon formuliert hat: «Was für andere selbstverständlich ist, soll auch für uns selbstverständlich sein.»
Islam Alijaj ist ein Schweizer Politiker (SP) und Behindertenrechtsaktivist mit Jahrgang 1986.
Bei den Wahlen am 22. Oktober 2023 erlangte er als erster Schweiz-Albaner einen Sitz im Nationalrat. Islam lebt mit Zerebralparese.
Islam Alijaj veröffentlichte 2023 sein Buch «Wir müssen reden – Ein biografisches Manifest». In Zusammenarbeit mit der Journalistin Christine Loriol schildert er darin seine Lebensgeschichte und seinen Einsatz für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das Buch bietet einen tiefen Einblick in seine persönlichen Erfahrungen und politischen Ziele.
Seine Ziele fasst er weit: «Ich setze mich ein für Menschen mit körperlichen, kognitiven, psychischen und Sinnesbehinderungen, Menschen, die sich als non-binär verstehen, die lieben, wen sie lieben, Menschen mit Migrationshintergrund, mit unterschiedlichen Religionen, ohne Zugang zu Bildung, am Existenzminimum, ohne feste Arbeit oder in Armut. Schlussendlich also tatsächlich in erster Linie für eine Gruppe: Minderheiten. Und da wir fast alle früher oder später einmal Teil einer Minderheit sind, eigentlich auch für dich.»