Unterwegs in neuen Sphären
Theater HORA: Quo vadis? Yanna Rüger, Künstlerische Co-Leitung, über die Wege des HORA.
Was kommt, was bleibt.
Yanna Rüger, Künstlerische Co-Leiterin am Theater HORA, teilt ihre Erfahrungen und Einsichten aus dem letzten Jahr. Dabei nimmt sie uns mit in ihre Gedanken über Unterschiede und deren Auswirkung auf unser Leben, über echte gelebte Teilhabe im Theaterbetrieb und über Visionen und Ziele für die Zukunft.
Interview: Fabienne Morgenegg, Stiftung Züriwerk
Was ist deine Aufgabe beim Theater HORA? Was macht dich aus?
Meine Aufgabe ist die künstlerische Co-Leitung des Theater HORA zusammen mit Stephan Stock. Ursprünglich bin ich Schauspielerin. Das ist immer noch sehr bedeutend für mich und meine Arbeit. Mein Blick auf meine Arbeit ist vom Auf-der-Bühne-Stehen praktisch geprägt.
Welche Aspekte deiner Persönlichkeit sind besonders wichtig bei der täglichen Arbeit im HORA?
Ich war schon immer interessiert an ungewöhnlichen Ereignissen. An Geschichten, bei denen man nicht weiss, wie sie ausgehen. Mehr als Antworten faszinieren mich Fragen, andere Sichtweisen auf die Welt. Alles, was nicht dem entspricht, was man der Norm zuschreiben würde. Ich bin von Natur aus ein wahnsinnig neugieriger Mensch und sehr interessiert, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Ich bringe auch eine ordentliche Portion Geduld und Gelassenheit mit. Es hat sich erwiesen, dass das Theater HORA ein sehr gutes Trainingslager ist, um das noch weiter zu vertiefen (lacht, denkt nach). Allgemein interessiert mich, wie man Räume schaffen und Orte gestalten kann, sodass man auf Augenhöhe und mit Respekt zusammenarbeiten kann. Wie man einen Ort mit Regeln gestaltet, die man gemeinsam bestimmt.
Welche Projekte hast du im vergangenen Jahr mit verantwortet?
Stephan und ich sind seit Sommer 2020 beim Theater HORA. Im ersten halben Jahr hielten wir uns alles frei und planten keine offiziellen Produktionen. Wir wollten die Zeit nutzen, um unser erstes grosses Theaterprojekt vorzubereiten. Als Thema wählten wir «Arbeit». Zusammen mit den HORAS (so nennen wir unser Ensemble) und dem ganzen Team wollten wir eine lange Recherchezeit haben, um «unsere» Regeln herauszufinden: Wie wollen wir in unserem Betrieb zusammenarbeiten? Was bedeutet es, Verantwortung zu übernehmen, wenn man Regie führt? Was ist ein guter Chef? Braucht es überhaupt einen Chef? Wir haben konzeptionell gearbeitet. Daraus ist dann unser Arbeitsmanifest entstanden (hier zur Ansicht).
Wie ist die Idee zu «Planet HORA» entstanden?
Wir wollten uns auch künstlerisch mit all diesen Fragen zu Sinn und Unsinn der Arbeitswelt auseinandersetzen. Das Resultat sollte dann im Frühjahr 2021 in einem Science-Fiction-Theaterprojekt auf die Bühne gebracht werden. Das Thema Arbeit beschäftigt viele Menschen jeden Tag so stark. Und Science-Fiction haben wir gewählt, weil man da nochmals sehr viel fantastischer über den Jetztzustand nachdenken kann und sehr viel utopischer oder auch dystopischer. Man hat viele Möglichkeiten, das mit Bühnenbild und Kostümen sinnlich umzusetzen.
Das war der Plan, aber Corona hat euch auf einen anderen Weg gebracht?
Wir wollten eine grosse Produktion machen mit dem ganzen Ensemble inklusive Band auf der Bühne. Doch die Ansteckungszahlen gingen im Winter wieder hoch. Der Probenstart war für März 2021 geplant. Bis Mitte Februar hielten wir daran fest und dachten, wir kriegen das irgendwie hin. Wir wussten, die Impfungen kommen, und wir hatten uns schon ein System überlegt, um in Kleingruppen zu proben. Kurz vor dem Probenstart wurde es uns zu heiss und wir beschlossen, dass wir einen Film machen anstatt eines Theaterstücks. Wäre Corona nicht gewesen, hätten wir das niemals gemacht.
Dann musstet ihr alles für den Film adaptieren?
Ja, das hat dann dazu geführt, dass wir innerhalb von zwei Wochen alles komplett umgeworfen und aus dem Nichts heraus einen Film gedreht haben, eben «Planet HORA».
Was waren die grössten Hürden?
Es ging oft darum zu vertrauen, die Kontrolle loszulassen und zu sagen, das findet sich alles, es werden sich Drehorte finden. Einerseits mussten wir natürlich planen, andererseits immer wieder flexibel auf neue Gegebenheiten reagieren. Es bedeutete ausserdem grosse Arbeitsaufwendungen für die Ausstattung und die Kostüme. Statt eines Bühnenraums mussten elf Räume beziehungsweise Drehorte eingerichtet werden. Das kostete uns Blut, Schweiss und Tränen. Diese ganze Zeit war wirklich enorm intensiv, aufregend und verrückt. Ein Wunder, dass das irgendwie geklappt hat. Aber jetzt haben wir einen Science-Fiction-Film gemacht und wir sind total froh und stolz auf das Ergebnis! Formal hat es sich natürlich angeboten, zum Thema Science-Fiction, einen Film zu drehen. Und ich glaube jetzt, dass das viel besser gepasst hat als ein Theaterstück.
Was sind die Chancen, die Corona gebracht hat?
So einen Film kann man auch noch in fünf Jahren gucken, währenddem ein Theaterstück einfach «abgespielt» und weg ist. Das bietet uns nun sehr viel mehr Möglichkeiten in der Auswertung. Wir können den Film viel besser und einfacher verkaufen. Es ist gut, dass wir diesen Film im Portfolio haben, weil auch weiterhin viele Festivals keine Gruppen einladen können. Und so bietet der Film eine supereinfache Möglichkeit, auf der ganzen Welt präsent sein zu können. Im März läuft er zum Beispiel in Hongkong an einem Festival und wird auf Kantonesisch synchronisiert. Das HORA ist ja international bekannt, aus der Zeit, in der das Ensemble ganz viel gereist ist. Aus Hongkong wäre früher eine Einladung für ein Theaterstück gekommen. Nun sind wir einfach digital vertreten.
Was hat Corona in euren Köpfen verändert?
Im Team denken wir nun ganz anders darüber nach, wie viel Sinn es macht, für zwei Theatervorstellungen oder für Podiumsdiskussionen und Konferenzen aus dem Themenfeld Disability Arts um die ganze Welt zu fliegen. Diese Veranstaltungen haben wir nun alle online gemacht. Da hätte man früher gedacht, das geht nicht. Aber es geht doch. Wobei natürlich auch ein ganz grosser Teil des Austausches fehlt.
Wie geht’s weiter mit «Planet HORA»?
Es gibt verschiedene Anfragen von Festivals. Der Film macht in der Deutschschweiz eine kleine Kinotour.
Woher kommt die Strahlkraft vom HORA beziehungsweise das immense Interesse an dieser Art von Kultur, die ihr schafft?
Da muss man ein grosses Dankeschön an alle aussprechen, die das Ganze mit aufgebaut haben: Michael Elber, Nele Jahnke und allen, die vor der grossen Umstrukturierung im HORA gearbeitet haben. Und es hat auch etwas mit der Jérôme Bel-Produktion «Disabled Theater» zu tun – das war ein Türöffner für HORA. Damals hatten noch ganz viele Institutionen keine Berührungspunkte mit Künstlerinnen mit Beeinträchtigung. Das Theater HORA hat gezeigt, dass es Menschen gibt, die anders ticken und trotzdem Schauspielerinnen sind. Es gab zahlreiche Diskussionen und viel Aufmerksamkeit. Unsere Vorgängerinnen mit den HORAS haben viel Arbeit darauf verwendet, herauszufinden, wie sie sie noch mehr selbst ermächtigen können in ihrem künstlerischen Ausdruck: Was interessiert sie als Künstlerinnen? Wie kommen sie in Positionen mit mehr Verantwortung, zum Beispiel in Regiepositionen. Oder wie lernen sie über ihre Kunst zu sprechen? Dieses Selbstverständnis bringen unsere Ensemblemitglieder in ihrem Kunstmachen mit, was für viele Leute und andere inklusive Gruppen recht neu war. Da war HORA ein Vorbild und eine Inspiration.
Aber die Strahlkraft geht über den Kulturplatz hinaus? War einfach die Zeit reif dafür?
Genau. Wir haben das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. In dieser Strömung nach mehr Diversität gehen die Türen in den Institutionen und in der Gesellschaft auf. Viele Ensembles haben innerhalb relativ kurzer Zeit versucht, sich damit zu beschäftigen und ihre Ensembles diverser zu gestalten, in Zürich und auch sonst an den grossen Häusern. Da findet viel statt an Bewusstmachen, an Aufarbeitung und an Lernen. Man merkt ganz deutlich, dass nun der Inklusionsgedanke der nächste Schritt ist. Dass alle merken, okay, das hört ja da nicht auf. Es gibt ja ganz viele Ungerechtigkeiten und marginalisierte Gruppen. Ohne die jahrzehntelange Vorarbeit vieler Aktivistinnen wären wir noch nicht an diesem Punkt. Und es ist auch so immer noch ein langer Weg zu echter Teilhabe.
Wofür steht das HORA?
Für die Professionalität der Leute, die wir im Ensemble haben. Das ist ihr Hauptberuf. Es macht einen grossen Unterschied, dass sie das nicht irgendwann an zwei Nachmittagen in der Freizeit machen.
Inwiefern seid ihr Vorbild und Inspiration?
Viele andere Gruppen interessiert, wie wir es geschafft haben, dass wir auch von der Kulturpolitik Anerkennung bekommen. Deshalb werden wir oft gefragt: Wie funktioniert das? Wie macht ihr das? Stephans und mein Ziel für das HORA war ja auch, dass wir mit allen Zürcher Kulturinstitutionen kooperieren und in Kontakt kommen, um den HORA-Vibe in die Institutionen reinzubringen. Und zu gucken, was das mit den Orten macht und ob sie sich bewegen und verändern lassen. Das funktioniert erstaunlich gut. Alle Institutionen, die wir bisher angefragt haben, sind interessiert. Wir haben die Möglichkeit, an wirklich vielen Orten zu arbeiten.
Was sind das für Institutionen?
Wir haben etwas gemacht mit dem Theater Neumarkt. Mit dem Fabriktheater Rote Fabrik – unserem langjährigen Partner. Mit dem Theater Gessnerallee Zürich gab es eine Produktion mit Jugendlichen und Kindern. Im Herbst ist eine Zusammenarbeit mit dem Tanzhaus geplant. Mit dem Schauspielhaus sind wir im Gespräch.
Was sind weitere Ziele und Wünsche von dir fürs HORA zum Thema Inklusion?
Wir haben erste Gastengagements. Leute aus unserem Ensemble arbeiten im ersten Arbeitsmarkt. Schauspielgruppen, die ausserhalb und komplett unabhängig von HORA produzieren, die aber mit HORAS besetzen möchten. Die Frage ist, wie wir es schaffen, dass das agogisch gut begleitet ist und die Produktionen das Know-how vermittelt bekommen, damit das für die HORAS ein guter und dennoch geschützter Arbeitsplatz ist. Mein grösster Wunsch wäre, dass sich das Schauspielhaus in vier Jahren traut, HORAS ins Ensemble aufzunehmen. Es fühlt sich sehr fruchtbar an, diese Arbeit zu machen, dauert aber noch eine Weile, bis sich das umsetzen lässt.
Siehst du Grenzen der Partizipation, die du nicht gern akzeptierst?
Ja, zum Beispiel in den Rollen innerhalb des HORAS. Die Frage ist, wie könnten Leute mit kognitiver Beeinträchtigung in die Leitung eines Theaters kommen – also in meinen Job zum Beispiel – wie könnte es gehen, dass die HORAS im Leitungsteam sind mit einer Entscheidungsverantwortung. Da gibt es verschiedene Hürden. Nur schon, dass sich wenige dafür interessieren, das zu machen, weil das ja wirklich manchmal eine langweilige Arbeit ist (lacht). Das stösst sich natürlich trotzdem, es ist eine Bevormundung, wir entscheiden letztlich, welche Leute wir einladen und welche Themen wir behandeln.
Ist das nicht bloss eine Träumerei?
Nein. Wir haben beispielsweise eine Produktion, wo Tiziana von den HORAS in München an den Kammerspielen mit einem gemischten Ensemble Regie führt. Mit Leuten mit und ohne Beeinträchtigung. Das ist ein Pionierprojekt. Man merkt aber wie viel Begleitung sie braucht und was für eine Verunsicherung das auch in so ein grosses Haus bringt. Sonst weiss man, die Regie ist jemand, der Ansagen macht und Entscheidungen trifft. Wenn man Tiziana nun fragt, welchen Bühnenboden sie will, nimmt sie sich drei Tage Zeit, um darüber nachzudenken (lacht). Und diese Zeit ist nicht vorhanden. Wie geht man damit um, wenn man keine Schattenregie machen und an ihrer Stelle entscheiden will? Das ist sehr interessant. Aber man merkt schon, dass man an Grenzen kommt.
Können diese Grenzen ganz aufgehoben werden?
Ich glaube, dass man die Grenzen zumindest verschieben kann. Da geht es nicht nur um Inklusion. Das wird grösser und existenzieller für die Kulturbetriebe. Man hinterfragt damit einfach alles. Von welcher Art von Menschen ist die Regieposition besetzt? Wer steht auf der Bühne? Wer spricht für wen? Das ist auch gesellschaftspolitisch relevant, was da passiert.
Ist das nicht ein grosser Luxus? Kultur kostet doch sonst schon viel.
Das ist immer die Frage. Es bringt auch einen supergrossen Gewinn. Selbst wenn man selber nicht ins Theater geht, profitiert man in einer Gesellschaft und einer Demokratie davon, dass es Menschen gibt, die Sachen komplett anders sehen. Menschen, die Dinge ausprobieren, sich mit Themen beschäftigen und sich trauen, diese in anderer Weise zu betrachten. So ähnlich ist es mit Inklusion auch. Mit der aktuellen Auseinandersetzung stossen wir so viel an, was Wellen werfen wird.
Was waren besondere Herausforderungen im Corona-Jahr?
Wir waren zweimal eine wirklich lange Zeit im Homeoffice. Über den ganzen Winter, wo wir nur über Zoom geprobt haben und die HORAS sich untereinander nicht sehen konnten. Da habe ich schon gemerkt, dass unter den HORAS einige massiv darunter gelitten haben. Dadurch, dass die Wohnheime abgeschirmt und isoliert sind, waren die dann wirklich sechs Monate in ihrem Zimmer. Das ist was anderes, als wenn ich Lockdown mache. Teilweise hat es die Leute depressiv gemacht und sie hatten richtig Angst davor, wieder in den Lockdown zu müssen. Das war etwas vom Herausforderndsten – zu sehen, was es den Menschen «antut».
Worauf freust du dich besonders, wenn Corona wieder weit weg von unserem Alltag ist?
Bei all den Online-Formaten und Livestreams wird nur ein Bruchteil transportiert. Im Theater geht es auch um die geteilte, gemeinsame Zeit. Ich glaube, dass da etwas auf Ebenen stattfindet, die man schwer ersetzen und die man auch nicht mit dem Verstand fassen kann. Es gibt diese Messung, dass sich bei einem Theaterstück die Herzrhythmen der Besucherinnen angleichen. Dieses Gefühl zu teilen, wenn man zusammen in einem Raum ist, wenn man diese Lebenszeit teilt und über ein Thema nachdenkt: Ich glaube das ist es, was sich nicht digital ersetzen lässt. Seit wir wieder auf der Bühne spielen und es Situationen mit Publikum und Applaus gibt, dürfen wir diesen Zuspruch und diese Form von Anerkennung wieder erfahren. Darüber freue ich mich besonders. Ich kann mir vorstellen, dass das den HORAS noch viel mehr bedeutet als mir.