Die UN-BRK, die Gesellschaft und wir
Was ist überhaupt die UN-BRK?
Und was bedeutet sie für die Schweiz und für die Stiftung Züriwerk?
Was ist überhaupt die UN-BRK?
Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Behindertenrechtskonvention (BRK), wurde am 13. Dezember 2006 in New York von der Generalversammlung der UNO verabschiedet. Es ist am 3. Mai 2008 in Kraft getreten und zählt heute 175 Vertragsstaaten, mit einer Besonderheit: Es ist das erste internationale Übereinkommen, dem die Europäische Union beigetreten ist. Die BRK ist das erste internationale Spezialübereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Die BRK wurde von der Schweiz am 15. April 2014 ratifiziert und ist am 15. Mai 2014 in Kraft getreten. Mit ihrem Beitritt zum Übereinkommen verpflichtet sie sich, Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern.
Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention am 13. Dezember 2006 kann das Schweizer Behindertengleichstellungsrecht in einen kohärenten Rahmen gestellt und ihm mehr Sichtbarkeit verschafft werden. Die Konvention anerkennt die Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt und distanziert sich von einem auf dem Begriff des Makels beruhenden Konzepts von Behinderung.
Quelle: Eidgenössisches Departement des Innern
Aha – und wie ist die Einbettung der UN-BRK in der Schweiz?
Die Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderung in der Schweiz
Eine geschichtliche Einordnung.
Die Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderung in der Schweiz
Eine geschichtliche Einordnung
Text: Jenny Hofmann, Leiterin Agogik der Stiftung Züriwerk
Unsere Gesellschaft ist von jeher divers und Menschen mit Behinderung waren schon immer ein Teil von ihr. Der Umgang mit ihnen und auch die Begrifflichkeiten haben sich jedoch im Lauf der Zeit stark gewandelt. Während Menschen mit Besonderheiten im Mittelalter noch als «überirdisch» verehrt oder mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurden, haben sich heute Begriffe wie Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung, Menschen mit Beeinträchtigung und Menschen mit Behinderung etabliert. Über die Entwicklung der Begrifflichkeit werden lange und engagierte Debatten geführt – und das ist auch richtig so. Denn die Terminologie prägt unser Denken. Bei Züriwerk betrachten wir Behinderung als gesellschaftliche und soziale Zuschreibung, das ist das (wohlgemerkt) vorläufige Ende einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung.
In der vorindustriellen Gesellschaft lag die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung in der Hand der Angehörigen und der Gemeinden. Die Industrialisierung brachte es mit sich, dass die Gesellschaft sich an neue Arbeits- und Lebensabläufe gewöhnte und bürgerliche Werte vertrat. In der klassenbewussten Arbeiterschaft herrschte das Verständnis vor, dass Menschen mit Behinderungen durch Disziplinierung und Gehorsam in die Arbeitsabläufe und somit in die Gesellschaft eingegliedert werden sollten (Disziplinierungsansatz). Sie wurden mittels der Armenfürsorge und später der Sozialhilfe entsprechend kontrolliert. Das Fürsorge- und Vormundschaftswesen entstand.
Aufgrund des Föderalismus und des subsidiären Staatssystems entstanden in der Schweiz regional unterschiedliche Strukturen und Formen des Fürsorge- und Vormundschaftswesens. Viele private und halbprivate Organisationen nahmen sich aus sozial und religiös geprägten Motiven der Aufgaben in der damaligen «Behindertenfürsorge» an und gründeten Institutionen zur Förderung behinderter Kinder. Das 19. Jahrhundert wird in der Forschung der Sozialen Arbeit darum gern als «Anstaltsjahrhundert» bezeichnet. Sogenannte Einrichtungen für Erwachsene erfolgten erst später.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die politische Forderung nach einer Invaliditätsversicherung laut. Deren Einführung wurde 1919 jedoch abgelehnt. In der Folge gründete eine Gruppe von Personen, die in der Behindertenfürsorge tätig waren, 1920 die Schweizer Vereinigung für Anomalie, die 1935 in Pro Infirmis umbenannt wurde. Die Pro Infirmis nahm sich der Behindertenfürsorge und deren Finanzierung an.
Auch die Stiftung Züriwerk hat in dieser Zeit ihren Ursprung. Auf die Initiative des Vereins zur Förderung geistig Behinderter hin wurde 1959 die Werkstube an der Bertastrasse in Zürich gegründet und 1964 das Heim Zur Platte in Bubikon gekauft. Kurz darauf wurde aus dem Verein eine Stiftung.
1960 wurde die schweizerische Invalidenversicherung (IV) gegründet. Durch die Übernahme von Leistungen wie der Invalidenrente und Ausbildungs- und Umschulungskosten, die mit Bundesgeldern finanziert wurden und werden, reduzierte sie den finanziellen Aufwand der Pro Infirmis für die Behindertenfürsorge.
Die Stiftung zur Förderung geistig Behinderter wurde 1998 in Stiftung Züriwerk umbenannt. Zwei Jahre später hielt das Diskriminierungsverbot Einzug in die Bundesverfassung und bildete die Grundlage für zusätzliche Gesetze wie zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz von 2004. Gleichzeitig eröffnete die Stiftung Züriwerk den Standort in Grüningen mit einem zusätzlichen Angebot für Menschen mit Hirnverletzung.
2007 trat zusätzlich das Gesetz über Invalideneinrichtungen für erwachsene Personen (IEG) in Kraft, das heute die gesetzliche Grundlage für Institutionen wie die Stiftung Züriwerk bildet. Durch den neuen Finanzausgleich im Jahr 2008 übertrug der Bund den Kantonen die Finanzierung und Steuerung der Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderungen. Dies führte zur Ausgestaltung von kantonalen Gesetzgebungen.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte stellt die Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Schweiz im Jahr 2014 dar. Auf der UN-BRK baut das neue Selbstbestimmungsgesetz des Kantons Zürich auf, das im Februar 2022 vom Zürcher Parlament angenommen wurde und nun zur Umsetzung kommt.
Die agogische Stossrichtung hat sich in der geschichtlichen Entwicklung von der Fürsorge hin zur Selbstbestimmung und dem Prinzip der Individualität gewandelt. Nicht mehr die Versorgung steht im Zentrum, sondern die Entwicklung und Selbstbestimmung des Individuums. Dieser Entwicklung hat sich die Stiftung Züriwerk längst verschrieben und geht ihren Weg, unterstützt vom neuen gesellschaftspolitischen Wind, stetig weiter.
Unser Buchtipp, wenn Sie sich vertieft mit der Geschichte der Behindertenarbeit in der Schweiz auseinandersetzen möchten:
Carlo Wolfisberg: Die Professionalisierung der Heil-/Sonderpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1850–1950), in: D. Horster et al., Sonderpädagogische Professionalität, Wiesbaden: Springer, 2005.
Und wo steht die Stiftung Züriwerk Ende Jahr 2022 konkret im Bezug auf die Umsetzung der UN-BRK?
Antworten im Interview mit Jenny Hofmann lesen
Die Gesellschaft, wir und die UN-BRK
Der Stiftung Züriwerk kommt bei der Umsetzung der UN-BRK eine wichtige Rolle zu. Wie füllt sie diese aus?
Jenny Hofmann, Leiterin Fachbereich Agogik der Stiftung Züriwerk, im Interview mit Fabienne Morgenegg
Die Gesellschaft, wir und die UN-BRK
Jenny Hofmann, Leiterin Fachbereich Agogik der Stiftung Züriwerk
im Interview mit Fabienne Morgenegg
Sich wandelnde individuelle Bedürfnisse und Möglichkeiten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, gesellschaftliche, finanzielle und politische Rahmenbedingungen sowie die Weiterentwicklung der agogischen Arbeit haben einen wichtigen Einfluss auf das Wirken der Stiftung Züriwerk. Nah am Menschen zu sein, sich zugleich in den gegebenen Rahmenbedingungen bewegen und nach der Präambel der UN-BRK zu handeln: Was bedeutet das für uns und was gibt es noch zu tun? Antworten auf diese Fragen erhalten Sie in diesem Interview.
Was sind für dich als Verantwortliche des Fachbereichs Agogik die wichtigsten bzw. themenrelevanten Artikel der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)?
Die Ratifizierung der UN-BRK ist ein historischer Meilenstein für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in der Schweiz. Sie verschafft diesen Menschen Gehör und schafft eine Gesetzesgrundlage für eine individuellere Lebensgestaltung, die ihren Kompetenzen und Fähigkeiten stärker Rechnung trägt. Es gibt leider noch grosse Unterschiede im Vergleich zu Menschen ohne diagnostizierte Beeinträchtigung. Zentral für unsere Arbeit sind sicherlich die Artikel über die Anerkennung von Menschen mit Behinderung, den Zugang zu Bildung, die Barrierefreiheit in Mobilität und Information, die Unterstützung in der Entscheidungsfindung und den Zugang zu Arbeit. Gerade zum «Zugang zu Arbeit» können wir als Stiftung einen wertvollen Beitrag leisten.
Wo kann eine Stiftung wie die unsere die Erwartung, die die UN-BRK an die gesamte Schweizer Gesellschaft stellt, konkret erfüllen?
Der Bericht des UN-BRK-Ausschusses vom März 2022 zeigt, dass in der Schweiz die meisten Wohn- und Arbeitsangebote für Menschen mit Beeinträchtigung institutionell geprägt sind. Wir haben den Auftrag, die Gesellschaft auf die Koexistenz von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, oder anders gesagt, von Menschen mit und ohne Rente der Invalidenversicherung (IV) zu sensibilisieren. Und wir müssen Chancenungleichheiten aufzeigen, indem wir auch im Bereich der Finanzierung darauf aufmerksam machen, dass die agogische Begleitung und letztlich die Befähigung Zeit, Wissen und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Die für diese Begleitung respektive Befähigung benötigten personellen und finanziellen Ressourcen stehen in einer Diskrepanz zu den vom Kanton vorgegebenen finanziellen Leistungsabgeltungen. Letztlich ist auch in der Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung die Finanzierung zentral, wenn man die hohen, aber auch gerechtfertigten Forderungen der UN-BRK in den institutionellen Angeboten abbilden will. Konkret bedeutet das für unsere Stiftung: echte Teilhabe leben, Brücken bauen, Begegnungen schaffen, Entwicklungsperspektiven eröffnen, den Menschen auf Augenhöhe begegnen, sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen und Mitbestimmung ermöglichen.
Was erfüllen wir deines Erachtens in unserer Stiftung schon sehr gut?
Schon sehr vieles vom vorher Genannten. Natürlich ist noch mehr möglich. Deshalb setzen wir unsere Bemühungen in Bezug auf Partizipation und Angebotsentwicklung fort. Einige Beispiele: Mit dem Theater HORA haben wir ein öffentlichkeitswirksames Vorbild eines einzigartigen Kulturbetriebes, der mit seinen Produktionen international unterwegs ist. Es gibt zurzeit nur wenige inklusive Kunst- oder Kulturbetriebe. Und unsere Berufliche Integration stellt sicher, dass es Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung im ersten Arbeitsmarkt gibt. Wir bieten durchlässige Angebote an, also die Möglichkeit für Mitarbeitende, via betriebliche Dienstleistungen Erfahrungen bei privaten Unternehmen und bei Privatpersonen zu sammeln. Wir haben in der Produktion zudem Arbeitsplätze für administrative Arbeiten geschaffen, die früher ausschliesslich von Fachpersonen erledigt wurden. Jetzt sind die Mitarbeitenden einbezogen und so erschliessen sich auch durch die neuen digitalen Möglichkeiten neue Arbeitsfelder. Die Angebote des dezentralen Wohnens sind schon sehr nah dran am Inklusionsgedanken oder dem, was das Selbstbestimmungsgesetz als Zielsetzung anvisiert: Menschen mit Beeinträchtigung sollen möglichst inklusiv und losgelöst von Begleitleistungen wohnen und mittels Voucher Leistungen von ihren Assistenzpersonen beziehen. Die Rolle der Assistenz und deren Rahmenbedingungen gilt es in der Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes (SLBG) von uns noch weiterzuentwickeln. Auch in den stationären Wohnangeboten arbeiten wir übrigens längst mit dem Fokus auf grösstmögliche Teilhabe.
Was bedeutet das Selbstbestimmungsgesetz für unsere Wohnangebote? Was werden wir anpassen müssen?
Das ist noch sehr ungewiss. Aber ich stelle hier eine Gegenfrage: Hast du in der letzten Zeit versucht, eine Wohnung zu finden? Gerade wenn die Miete über die Ergänzungsleistungen (EL) finanziert wird und du zusätzlich vielleicht Schulden oder einen Eintrag im Betreibungsregister hast, ist das sehr schwierig. Das Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass Menschen mit einer IV-Rente selbst eine Wohnung mieten und die Begleitleistungen losgelöst vom Wohnraum mit Vouchern beziehen können. Die Idee ist, dass der einzelne Mensch mehr Autonomie hat und dadurch selbstwirksam seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Das setzt aber auch Verantwortung voraus und erfordert Kompetenzen. Ein Beispiel: Zurzeit sind wir die Mieterin von Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt. Die Stiftung bürgt somit für gewisse Risiken und ist Ansprechperson für Vermieter und Nachbarn. Es weiss aber noch niemand, wer in der konkreten Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes für die Suche einer Wohnung für einen Menschen mit IV-Rente zuständig ist. Ich denke, der Kanton ist hier gefordert, er muss handeln und die Institutionen auffordern, Lösungen zu erarbeiten. Doch manchmal dünkt es mich, als würde man das Pferd von hinten aufzäumen. Es bräuchte erst Strukturen und definierte Leistungen, bevor man den Institutionen diese Mammut-Aufgabe aufträgt. Klar haben wir eine Übergangsfrist. Und doch sind wir letztlich keine Liegenschaftsverwaltung oder Wohnungsvermittlung. Die agogische Ausrichtung unserer stationären und dezentralen Wohnangebote ist bereits stark gesellschafts- und teilhabeorientiert. Nun sollten wir einen Schritt weitergehen und auch Menschen mit komplexer Beeinträchtigung Inklusion ermöglichen.
Wo muss die Gesellschaft wirken und wo die Politik? Wer hat welche Aufgaben?
Es ist natürlich erst mal wichtig, dass Menschen mit Beeinträchtigung in politische Gremien einbezogen sind und so Entscheide für unser Land und unsere Gesellschaft mitprägen können. Auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollen an der Politik partizipieren können. In der Gesellschaft braucht es vor allem Solidarität. Gustav Heinemann schrieb: «Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.» Dies kostet Geld. Aber es kann doch nicht sein, dass Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung fast um einen integrativen Schulplatz betteln müssen. Oder dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht im ersten Arbeitsmarkt arbeiten, weil sie Angst haben, bei einem möglichen Rückfall keinen oder nur sehr erschwerten Zugang zu IV-Leistungen oder Ergänzungsleistungen zu bekommen. Oder dass sie viel Zeit und Energie aufwenden müssen, um Assistenzdienstleistungen gutgesprochen zu bekommen. Konkret heisst das als Forderung an die Gesellschaft und die Politik:
- Information und Sensibilisierung der Gesellschaft: Das Fakultativprotokoll zur UN-BRK muss ratifiziert werden, damit Menschen mit Beeinträchtigung bei Beschwerden in Bezug auf die Umsetzung der UN-BRK Zugang zum Ausschuss der UN haben.
- Bildung: Es braucht einen Vorrang der integrativen Beschulung, ein grösseres Angebot in der Grund- und Mittelschule für Menschen mit Beeinträchtigung, mehr ausgebildete Lehrpersonen und Angebote in Unterstützter Kommunikation und Gebärdensprache.
- Stellensuche und Arbeitsmarkt: Hier braucht es mehr Ausbildungsmöglichkeiten, mehr inklusive Stellen für Menschen mit Beeinträchtigung, auch im kaufmännischen und technischen Sektor. Unternehmen sind gefordert, Menschen mit Beeinträchtigung Jobs anzubieten und so ihren Teil zur Inklusion beizutragen. Staatliche Systeme sollen den Unternehmen mittels Kompensationsbeiträgen finanzielle Anreize setzen.
- Monitoring und staatliche Anlaufstellen: Das Eidgenössische Büro für Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigung soll die Kapazität haben, die Koordinationsstelle für Monitoring und Anlaufstelle für die Umsetzung der UN-BRK zu sein.
- Stiftungen, Vereine und Verbände sollen genug Fachkräfte haben, um nicht ausgebildete Personen zu coachen oder wo nötig direkt agogische Dienstleistungen oder Assistenzleistungen zu erbringen.
Was sind anstehende Themen in unserer Stiftung?
Wir werden in Zukunft gefordert sein, uns selbst auferlegte Barrieren abzubauen, noch bewusster auf Augenhöhe mit Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung zu arbeiten. Und wir werden vermehrt in Zusammenarbeit mit internen oder externen Anbietern, seien dies interdisziplinäre Leistungserbringer, Angehörige, Freiwillige etc., modulare Leistungen erbringen. Sei dies bei lebenspraktischen Aufgaben im Wohnen, in der Tagesstruktur, in der Freizeit oder bei der Arbeit. Es wird zum Standard werden, dass Menschen mit Beeinträchtigung Jobprofile wie du und ich haben, in den Arbeitsprozess miteinbezogen sind, statt gesonderte Arbeiten auf Anweisung zu machen. Dass sie auch in kaufmännischen oder IT-Berufen Aufgaben ausführen oder vermehrt im ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Dass sie inklusiv, in Wohnstrukturen ausserhalb der stationären Angebote, zum Beispiel in Wohngemeinschaften, auch mit Menschen ohne Beeinträchtigung oder mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung wohnen. Dass die Rolle der Assistenz auch in stationären Wohnangeboten, in der Tagesstruktur und der Freizeit einen Stellenwert bekommen kann. Entwicklungsbedarf haben wir meines Erachtens auch in der digitalen Teilhabe von Menschen mit komplexer Beeinträchtigung und dem Zugang zu Information.
Werden sich unsere Wohn- und Arbeitsangebote in der Stiftung verändern? Auch wenn noch vieles unklar ist, was läuft konkret in der Angebotsentwicklung in der Stiftung?
Für die laufende Angebotsentwicklung in der Stiftung ist ein etabliertes gemeinsames Verständnis der Ausgangslage und der Ausrichtung wichtig. Nur so können wir uns entwickeln. Wir decken eine breite Angebotspalette ab, aber was macht die jeweiligen Angebote aus? Was sind deren Alleinstellungsmerkmale? Ich spreche hier eine gewisse Spezialisierung an, im Wissen, dass die Durchlässigkeit wichtig ist. Es ist wichtig, alle Lebensbereiche abzudecken und spezifische Angebote zu bestimmten Themen zu entwickeln, zum Beispiel zum Berufseinstieg, zum selbstständigen Wohnen, zu Entwicklungsmöglichkeiten in der mittleren Lebensphase bis hin zur Lebensgestaltung im fortgeschrittenen Alter. Ansätze können sein: unsere klassischen agogischen Leistungen in Assistenzleistungen weiterentwickeln, Einstiegsangebote für selbstständiges Wohnen ausserhalb der familiären Strukturen anbieten, ambulante Angebote im Wohnen definieren, Tagesstrukturangebote für Externe schaffen, bestehende Angebote in der Tagesstruktur modularisieren und weitere Arbeitsmöglichkeiten im ersten Arbeitsmarkt – auch innerhalb unserer Stiftung – eröffnen.
Was meinst du mit Durchlässigkeit?
Durchlässigkeit heisst für mich, von den verschiedenen Angeboten primär innerhalb, aber auch ausserhalb der Stiftung profitieren zu können. Je nach Lebensabschnitt und persönlicher Entwicklung verändert sich der Bedarf. Wie schön wäre es doch, wenn man ohne grosse Probleme vom ersten wieder in den zweiten Arbeitsmarkt wechseln könnte oder umgekehrt. Oder wenn man von einem Tagesstrukturangebot und gleichzeitig einem Arbeitsplatz profitieren könnte. Ein weiteres Beispiel dafür wäre: Jemand wohnt zurzeit in einem ambulanten Angebot und wechselt bei Bedarf wieder ins stationäre Wohnen, das heisst in eine Wohngemeinschaft in einer Institution.
Wie beurteilst du die Stiftung Züriwerk in Bezug auf gelebte Partizipation?
Züriwerk hat bei der Einführung der Funktionalen Gesundheit viel Engagement und Effort in das Thema Partizipation gelegt. Dies ist noch heute spürbar. An einigen Orten mehr, an anderen weniger. In den letzten Jahren sind durch die Pandemie viele neue Regeln entstanden, die für Sicherheit und Schutz des Individuums gedacht sind, aber auch einen fürsorgerischen Charakter haben. Das hat uns möglicherweise wieder etwas zurückgeworfen in der gelebten Teilhabe. Digitalisierung, im richtigen Mass angewandt, kann eine Chance für Partizipation sein. Doch die Umsetzung ist anspruchsvoll und kostet uns nach wie vor viel Energie. Die Begegnung auf Augenhöhe mit Menschen mit Beeinträchtigung und ihren Angehörigen, das Kennen der Menschen und ihrer Bedürfnisse wird auch zukünftig sehr wichtig sein. Gelingt es uns hier, weiter (Hierarchie-)Stufen abzubauen, sehe ich erhebliches Potenzial für unsere Attraktivität in der Zukunft.
Wo fehlt es an Partizipationsmöglichkeiten?
Partizipationsmöglichkeiten sind gerade bei Menschen mit schweren oder komplexen Beeinträchtigungen noch zu stark eingeschränkt. Hier können wir und auch die Gesellschaft mehr für die Möglichkeiten gelebter Teilhabe tun. Dabei geht es nicht nur um Mobilität, das heisst, dass ich mit einem Rollstuhl an einem Bahnhof ein- oder aussteigen kann. Es geht mehr um das grundlegendste Bedürfnis, sich mitzuteilen und mitwirken zu können und so auch sich selbst zu verwirklichen. Sich mitzuteilen heisst, ein Teil von etwas zu sein. Ist mir das verwehrt, kann ich nicht teilhaben. Auch sollte es uns gelingen, mehr Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf Wohnen, Freizeit und Arbeit zu bieten, inner- und ausserhalb von Züriwerk. Der Zusammenarbeit mit Angehörigen, dem Einbezug des sozialen Umfelds, den Freiwilligen und vor allem den Peers sollten wir mehr Beachtung schenken. Die Funktionale Gesundheit hat den Faktor des Raums als entscheidenden Faktor für gelingende Teilhabe eingebracht, also die Tatsache, dass gelingende Teilhabe nicht in erster Linie von der Person und der Begleitung abhängig ist, sondern vor allem auch von (sozial-)räumlichen Kontexten.
Was sind deine kühnsten Wünsche bezüglich Partizipation in der Stiftung und für die Gesellschaft?
Was für eine tolle Frage. Könnte ich den Zauberstab schwingen, gäbe es wohl keine Menschen mit Nach Wir wären eine friedvolle Gesellschaft, in der die Menschen sich gegenseitig und die Natur achten. Aber wir sind eine Gesellschaft, die sich an materiellen Werten und Leistung misst und die individuellen Bedürfnisse oft höher gewichtet als Solidarität. Das ist jetzt vielleicht ein wenig schwarzgemalt. Aber ich möchte damit verdeutlichen, warum ich mir was wünsche. Dürfte ich mir für die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung etwas wünschen, wären das wohl mehr Chancen: mehr Chancen in Bezug auf Bildung, berufliche Entwicklung, Kommunikation und Politik auch für die 5 Prozent Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Dies setzt einen Haltungswechsel in der Gesellschaft voraus, bei den rechtlichen Grundlagen, den Sozialversicherungen, den Finanzierungen, bei der sozialen Arbeit und nicht zuletzt bei den Menschen mit Beeinträchtigung selbst. Ich wünsche mir, dass auch Menschen mit stärkeren Nachteilen in der Arbeit und im Alltag mehr Möglichkeiten und Entscheidungsspielräume betreffend Bildung, Arbeit, Liebe und Sexualität, soziales Zusammenleben, Politik und Freizeitgestaltung haben. In der Stiftung wünsche ich mir, dass Menschen mit Beeinträchtigung noch mehr inklusiven Anteil in bestehenden Gremien oder Projekten haben. Der Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» gilt auch für uns.
Jenny Hofmann arbeitet seit 2009 in der Stiftung Züriwerk. Zuerst wirkte sie zehn Jahre im Geschäftsbereich Wohnen in verschiedenen Wohngruppen und verschiedenen Funktionen. 2018 wurde sie Leiterin Bildung. Seit Oktober 2021 verantwortet sie den Fachbereich Agogik und ist Mitglied der Geschäftsleitung.