UN-BRK: Was leistet die Politik?
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in der Schweiz seit 2014 in Kraft. Doch die Umsetzung verläuft eher langsam. Was braucht es, damit die Vorgaben in den verschiedenen Lebensbereichen in die Praxis übersetzt werden? Yvonne Bürgin, Stifungsrätin der Stiftung Züriwerk, zeigt auf, wo sie Handlungsbedarf und Ansatzmöglichkeiten sieht.
UN-BRK: Was leistet die Politik?
Die UN-BRK stellt ein wichtiges Instrument dar, um Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die UN-BRK umfasst alle Aspekte des Lebens, darunter die politische Teilhabe, den Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung sowie den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Sie verpflichtet ein Land auch, Barrieren abzubauen und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu fördern. Zuständig für die Umsetzung sind in der Schweiz der Bund, die Kantone und die Gemeinden, wobei den Kantonen eine führende Rolle zukommt.
Umsetzung verläuft langsam
Die Unterzeichnung der UN-BRK war ein wichtiger Schritt für die Schweiz. Doch die Umsetzung verläuft relativ langsam. Einen Grund sehe ich darin, dass viele der Verpflichtungen offen und allgemein formuliert sind. Dies schafft wenig Verbindlichkeit für die Entscheidungsträger. Ein weiterer Grund ist aus meiner Sicht die Komplexität. Forderungen, die auf dem Papier stehen, in die gelebte Praxis umzusetzen, erweist sich oftmals als viel schwieriger als angenommen. Dies stelle ich auch persönlich immer wieder fest. Will man konkrete Massnahmen umsetzen, benötigt es mehr als Bereitwilligkeit. Es braucht das Fachwissen der Basis und eine breite Zusammenarbeit der Betroffenen, damit die teilweise komplexe Umsetzung in der Praxis funktioniert. Als ich noch Sekundarschulpflegerin war, durfte ich die Einführung der integrierten Sonderschulung begleiten und umsetzen. Gestützt auf den Artikel 24 der UN-BRK, welcher Chancengleichheit fordert, musste ein inklusives Schulsystem aufgebaut werden. Denn anstatt Kinder und Jugendliche mit besonderem Bildungsbedarf in externen heilpädagogischen Schulen separiert zu schulen, müssen sie gemäss dem kantonalen Volksschulgesetz sei 2007 wenn möglich in der Regelschule unterrichtet werden. Ich hatte das Glück, mit Lehrpersonen und Förderlehrpersonen zusammenzuarbeiten, die dieser Umsetzung positiv gegenüberstanden und auch viel an Fachwissen mitbrachten. Wir stellten jedoch auch fest, dass es je nach Schweregrad der Behinderung Grenzen gibt. Nicht jedes Kind fühlt sich wohl in einer Regelklasse. Für mich war schnell klar, dass es die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Schule und Lehrperson braucht. Ebenfalls wichtig war die Weiterbildung der Lehrpersonen, damit sie sich die nötigen Kenntnisse darüber aneignen konnten, wie der Umgang mit Schülerinnen oder Schülern mit Beeinträchtigung für alle stimmt.
Behindertenorganisationen in der Pflicht
Wie eine kürzlich durchgeführte Umfrage bei der Zürcher Bevölkerung zeigt, möchte sich eine Mehrheit wieder von der integrativen Schulung verabschieden und zu den Kleinklassen zurückkehren. Viele Eltern fürchten um die Qualität der Schulen. Leider sehen viele Eltern nicht die Vorteile, sondern nur die Nachteile der Inklusion für ihre eigenen Kinder. Hier sehe ich die Behindertenorganisationen stärker in der Verantwortung. Sie müssten sich lautstark wehren, wenn die Politik wieder nach mehr Separation ruft. Das kann nicht die Lösung sein. Genau aus diesem Grund bin ich Politikerin geworden, weil eben auch schwächere Menschen eine Stimme brauchen. Damit Inklusion gelingen kann, braucht es also den Einbezug aller Akteure und Betroffenen, das zeigt schon diese persönliche Erfahrung, und das gilt erst recht auf
der politischen Ebene.
Handlungsbedarf angezeigt
Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ist eine Querschnittaufgabe und darum hat der Kanton Zürich 2019 die Koordinationsstelle Behindertenrechte geschaffen. Ein Ziel ist auch die gelebte Partizipation, also der Einbezug von Menschen mit Behinderung. Mit dem Mitwirkungsmodell «Partizipation Kanton Zürich» wurden sieben Arbeitsgruppen mit Betroffenen verschiedener Behinderungsformen gebildet. Diese Massnahmen leitete die Zürcher Regierung ein, nachdem eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Zusammenarbeit mit der Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ) dringenden Handlungsbedarf aufgezeigt hatte. Die Zürcher Regierung hat daraus drei Empfehlungen als Sofortmassnahme abgeleitet:
- Mit der Schaffung der Koordinationsstelle Behindertenrechte soll die Umsetzung der UN-BRK gefördert werden.
- Als zweite Massnahme wird der Zugang zu Informationen der kantonalen Verwaltung laufend verbessert. So werden die kantonalen Wahlunterlagen neu in Leichter Sprache angeboten. In Zukunft müssen weitere wichtige Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt werden.
- Und als dritte Massnahme hat die Regierung einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK erarbeitet. Dieser Aktionsplan Behindertenrechte Kanton Zürich 2022–2025 liegt nun vor.
Ein Aktionsplan als Grundlage
Dieser Aktionsplan ist eine gute Grundlage, um alle beteiligten Entscheidungsträger zu sensibilisieren und ihnen eine Übersicht zu geben, wo überall Handlungsbedarf
besteht. Aber der Aktionsplan darf kein Papiertiger bleiben. Darum sind neben dem Kanton auch die Gemeinden sehr stark gefordert. Die Handlungsfelder reichen von Bildung, Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung, Bau- und Mobilitätsinfrastruktur bis zum Ermöglichen von selbstbestimmtem Leben. In vielen Bereichen sind wir auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Ab Januar 2024 wird das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft treten, das durch die neue Subjektfinanzierung mehr Selbstbestimmung ermöglichen soll. Bei der Erarbeitung dieser Gesetzesvorlage hat die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten sehr gut funktioniert. Aber obwohl bei der Gesetzesberatung viel daran gesetzt wurde, die betroffenen Menschen und Institutionen anzuhören, wird die Umsetzung in die Praxis kein Spaziergang.
Vernetzung und Zusammenarbeit
Partizipation, Inklusion und Selbstbestimmung sind für mich keine Fremdwörter und ich bin froh, dass ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Stiftungsrätin bei der
Stiftung Züriwerk regelmässig mit diesen Themen auseinandersetzen darf. Und ich konnte schon viel lernen. Im politischen Alltag merke ich jedoch, dass der Behindertengleichstellung weit weniger Beachtung geschenkt wird als anderen Themen. Um das zu ändern, braucht es eine bessere Vernetzung der Akteure im Bereich Behindertenrechte mit der Politik. So wie es Arbeitsgruppen, Parlamentarische Gruppen oder Spezialkommissionen zu diversen anderen Themen gibt, so müsste eine Vernetzungsgruppe Politik–Behindertenrechte ins Leben gerufen werden. Damit wir Personen in politischen Ämtern den Handlungsbedarf sehen, brauchen wir das Hintergrundwissen aus der Praxis. Wir müssen erfahren, wo genau der Schuh drückt, damit wir uns für die Gleichstellung der rund 280’000 Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich stärker einsetzen können. Damit Partizipation, Inklusion und Selbstbestimmung nicht nur Wörter in unseren Köpfen bleiben, braucht es einerseits mehr Politikerinnen und Politiker, die sich dem Thema widmen. Aber genauso sind die Verbände (INSOS, Aktionskreis Behindertenpolitik) und die grossen Institutionen wie die Stiftung Züriwerk gefordert. Es muss gelingen, für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Politik und Vertretenden der Verbände und Institutionen zu sorgen. Bald startet eine neue Legislatur im Kantonsrat und dies bietet auch für mich eine gute Gelegenheit, die Chance zu packen und mir neue Ziele zu setzen. Ich werde mein Bestes geben, damit wir in der Umsetzung der UN-BRK einen Schritt weiterkommen. Das Schreiben dieses Beitrages hat mich auf jeden Fall motiviert. Und eine erste politische Verbündete, die in der neuen Legislatur zusammen mit mir einen stärkeren Fokus auf das Thema Behindertenrechte legen will, habe ich auch bereits gefunden.